Texte/Reden

Manfred Schlüter

Für Siegfried Lenz zum 80. Geburtstag Von ihr, die mich in seine Welt lockte. Für ihn, den Schöpfer jener Welt.

Es wäre eine Lüge zu behaupten, ich hätte den Stunden mit ihr in freudiger Erwartung oder gar mit heißem Verlangen entgegengefiebert. In Wahrheit versetzten sie die geheimnisvolle Welt meines Magens und diverser Därme in Aufruhr. Sie lagen schwer auf meiner kleinen Seele, und schon beim gelegentlichen Blick in die nähere Zukunft zeigten sie sich als schwarze Schatten auf dem Stundenplan. Das einzig Tröstliche war, dass die Stunden mit ihr bereits nach 45 Minuten durch das schrille Klingeln der Schulglocke beendet wurden. Sie gab Mathe.

Die Tür zum Klassenzimmer wurde aufgerissen. Sie stürmte federnden Schrittes Richtung Tafel und ließ das Übergewicht ihres Aktenkoffers auf das duldsame Holz des Pultes krachen. Ihre Augen blitzten. „Fünf Minuten Gehirnschmiere!“, rief sie und klatschte derart in die Hände, dass zweimal dreißig Trommelfelle schmerzten. So begann sie jede Stunde. Jede.

An diesem Morgen jedoch war alles anders. Wahrscheinlich hatte der vermeintliche Frieden der Vorweihnachtszeit sein warmes Licht in ihr kaltes Herz geschickt und einen andren Menschen aus ihr gemacht. Jedenfalls öffnete sich die Tür zum Klassenzimmer langsamer als sonst. Nahezu geräuschlos. Sie stürmte nicht. Sie setzte feierlich einen Fuß vor den andren, legte ihren Aktenkoffer behutsam auf das Pult und entnahm ein Büchlein. Auf dem grünen Grund des Schutzumschlages zeigte sich eine Gruppe von Menschen, mit beherztem Strich aufs Papier geworfen. Unter ihnen ein älterer Herr, der an einem Jungen zu schnuppern scheint. Und über all dem schwebte in schwarzen Lettern der Name des Verfassers. Ich kannte weder ihn noch die vier Worte, die den Titel des Werkes verrieten.

Und sie … sie klatschte nicht in die Hände. Sie schlug das Büchlein auf und begann zu lesen. Mit einer Stimme, die nicht die ihre war. Mit einer Färbung in der Sprache, die ich nie zuvor gehört hatte, zumindest nicht aus ihrem Mund. Und ihre Augen … sie blitzten nicht. Sie leuchteten. Sie las die erste der Geschichten. Sie las die zweite, die dritte … Der Klassenraum verschwand. Um mich herum wuchs eine andre Welt. Und mittendrin ein kleines Dorf: Suleyken.

Ich vergaß meine Freunde aus dem ungezähmten Westen, die zu Hause mit Henrystutzen und Silberbüchse auf mich warteten. Ich war weit weg, im Osten unseres Kontinents, und schlug mit Hamilkar Schaß den schießwütigen Rokitno-General Wawrila in die Flucht - lesenderweise. Ich entwickelte eine Vorliebe für Lakritz und wurde, wie Joseph Waldemar Gritzan, heimgesucht von der Liebe zu Katharina Knack. Ich lernte Adolf Abromeit kennen, auch Luise Luschinski und die Vettern Urmuneit. Ich begegnete der fülligen Tante Arafa, dem gespenstischen Schiffer Manoah, dem Gnurpel Kukielka und all den anderen Gestalten, die in zwanzig Geschichten ihr sonderliches Leben vor mir ausbreiteten. Ich war einer von ihnen. Und ich war glücklich!

Aber dann, nach Weihnachten, wuchsen auf der Tafel wieder weiße Kreidezahlen. Die andre Welt blieb draußen vor der Tür. Und sie … sie las nicht mehr. Sie klatschte in die Hände, dass reihum die Trommelfelle platzten, und gab Mathe. Glücklicherweise hatte das Büchlein unterm Tannenbaum gelegen: So zärtlich war Suleyken. Ich besitze sie noch, die masurischen Geschichten von Siegfried Lenz. In einer Lizenzausgabe des Deutschen Bücherbundes mit Zeichnungen und Initialen von Erich Behrend.

In seinen Geschichten, so gibt der Autor zu, wird ein wenig übertrieben. Und es wäre eine Lüge zu behaupten, ich hätte in meiner Geschichte nicht übertrieben. Allerdings, so schreibt Siegfried Lenz in einer diskreten Abhandlung auf den letzten Seiten seines Büchleins, allerdings könne das bewährte Mittel der Übertreibung durchaus im Dienste der Wahrheitsfindung stehen. Na bitte!


veröffentlicht in Littera borealis 04
Edition zur zeitgenössischen Literatur im Norden
2006