Texte/Reden

Manfred Schlüter

Laudatio auf Dirk Lornsen anlässlich der Verleihung des Friedrich-Hebbel-Preises am 21. März 1997 in Wesselburen

Ich grüße Sie und euch alle und ganz besonders dich, lieber Dirk, weil heute dein Tag ist.

Als ich vor einiger Zeit gefragt wurde, ob ich bereit wäre, etwas zu sagen über dich und deine Arbeit, habe ich mich gefreut und ja gesagt. Obwohl: Da gibt es andere, die dir näher sind, die dich besser kennen und dein Schaffen besser beurteilen können als ich. Ich bin Maler, Zeichner, ein Büchermensch, der nur dann und wann in der Buchstabensuppe rührt.

Heute aber gilt es, für einen Schreiber die richtigen Worte zu finden. Auf der Suche nach denen habe ich Bilder gefunden. Die Erinnerung hat sie nach oben gespült. Es sind Momentaufnahmen, Schlaglichter, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Ich will versuchen, sie zu beschreiben und auf diese Weise ein Bild, mein Bild, von dir zu zeichnen.

Wenn ich an dich denke, lieber Dirk, denke ich immer auch an Mutter Margot und Vater Boy. Durch die beiden haben wir uns kennen gelernt. Mutter Margot ist heute hier, Vater Boy in einer anderen Welt. Und doch zugegen. Zumindest in unseren Gedanken.

Du und ich, wir haben viel gelernt von ihm, von ihnen. Dafür sind wir dankbar. Heute aber geht es nicht um Boy, nicht um Margot, sondern um dich und dein Werk. Nur: Du wirst - als Mensch und in deiner Arbeit - immer wieder gemessen an ihnen. An deinem Vater vor allen Dingen. Verglichen mit ihm, zumal er - wie du - ein Meister des Wortes ist bzw. war. Er wirft immer noch einen großen Schatten, der Schutz bieten kann und aus dem herauszutreten nicht leicht ist. Ich will versuchen, den Schatten beiseite zu schieben und dich zu sehen.

Ich sehe dich als Maurer, Tischler, Zimmermann. Du weißt, was es heißt, ein Haus zu bauen, umzubauen, auszubauen, das Alte zu bewahren, Neues behutsam einzufügen. Du kennst dich aus mit Holz und Stein, mit Hämmern, Meißeln, Sticheln, Zwingen, kennst Schwielen, Blasen, blaue Flecken und den Schweiß. Du beherrschst dein Handwerk. Und dazu braucht es auch den Kopf.

ch sehe dich mit Ohrenschutz und Kettensäge. Vorsichtig befreist du die alte Ulme vorm Haus von einem tonnenschweren, kranken Ast, setzt vorausschauend Bohrlöcher, damit Wasser sich nicht staut und der alten Dame weiter zusetzt. Auf die offene Wunde streichst du Balsam. Wie ein guter Arzt, der nicht zögert, einen lebenswichtigen Eingriff vorzunehmen und um die Kraft der Pflege weiß. Du beherrschst dein Handwerk. Und dazu braucht es auch das Herz.

Ich sehe dich als Gräber. Hast dich in steinalte, eisig kalte Zeiten eingegraben, hast Schicht für Schicht behutsam freigelegt und Vergangenheit ans Tageslicht geholt. Du kennst dich aus in diesen Zeiten. Kennst dich wirklich aus! Du weißt den Feuerstein zu schlagen und zielgenau den Speer zu werfen, entfachst ein Feuer mit Stein und Holz und trock’nem Gras. Du beherrschst dein Handwerk. Und dazu braucht es auch Erfahrung. Die eigene. Und es braucht das Wissen um die Erfahrung anderer.

Viele Bilder fallen mir ein, und nahezu immer zeigen sie dich als einen Arbeiter, einen Handwerker. Und man mag fragen: Was haben diese Bilder mit dem Autor Dirk Lornsen zu tun? Mit dem Schriftsteller, der ROKAL und TIRKAN hat lebendig werden lassen und die RAUBGRÄBER?

Sehr viel haben sie zu tun mit dem Buchstabenmenschen Dirk Lornsen! Denn immer wieder begegnen wir ihnen in seinen Büchern, diesen Menschen, die mit ihrer Hände Arbeit und klugem Kopf etwas zustande bringen.

 

Das ist Umin, der es versteht den Stein zu schlagen und Werkzeuge zu fertigen und Waffen. Da ist Lonn, dessen technischer Verstand den Transport gewaltiger Felsen erleichtert. Da ist Merur, der kunstvolle Tongefäße formt. Da ist Schirr, der mit dem Steinmeißel Tiere in die Schieferplatte ritzt.

Und da sind viele andere, deren Arbeit du beschreibst. So beschreibst, wie es nur jemand vermag, der diese Arbeit kennt, der auch am Schreibtisch nicht auf die schnelle, die bequeme Lösung hofft, sondern mit Ausdauer und Zähigkeit nach Wörtern sucht und Sätze baut und Sätze sammelt und die Geschichte langsam wachsen lässt.

So wie Umin Holz und Horn bearbeitet, Knochen und Stein Stück für Stück der endgültigen Form näher bringt, so feilst du an deinem Text, klopfst ihn ab auf schwache Stellen und hauchst den Geschöpfen Leben ein. Denn sie beherrschen nicht nur ihr Handwerk, diese Menschen. Sie haben ihre Stärken und Schwächen, ihre Eigenarten.

Sie sind einsam und verbittert. Wie der hagere Harp, der sich nach dem Tode seiner Frau zurückgezogen hat und mit seiner Trauer und seinem Hass in einem Baumstamm lebt.

Sie sind böse und unberechenbar. Wie Brenk und Grigo und Kumpanen, die den Dorfleuten Brot und Gegorenes abpressen.

Sie sind stark und mutig. Wie Mindara, Sirin und Nuran, die kämpfenden Frauen.

Sie sind gerecht und gelassen. Wie Kummla und Mura, wie Om und Kum, die weisen alten Frauen und Männer, die in der Lage sind, die sichtbaren und die unsichtbaren Zeichen zu erkennen.

Sie sind jung und auf der Suche. Wie Mina und Tirkan, wie Arik und Rokal, die noch lieben können und hoffen.

Sie sind glücklich und verzweifelt, ängstlich, krank und voller Zuversicht. Sie leben und lieben und leiden, die Menschen in deinen Büchern. Und wir lesen und lieben und leiden mit.

Sie werden uns vertraut, die Menschen. Und die Landschaften! Die Berge, Wälder und der Fluss, die Geröllfelder, Siedlung und Festung. Auch der einsame Wolf, der mit dem Jäger die Beute teilt.

Wir spüren die Sorge um die Zukunft, die dich beim Schreiben lenkt, und die Hoffnung, die in deinen Texten wohnt. Und unser Wissen wächst. Auch das Wissen der Kinder, denen du in zahlreichen Veranstaltungen Rede und Antwort stehst.

Lieber Dirk, ich sehe dich als Reisenden. Viele Tage im Jahr bist du mit Büchern und Steinen unterwegs, bist zu Gast in Schulen und Bibliotheken, nimmst Kinder mit auf die Reise in längst vergangene Zeiten und in die Welt der Bücher. Und dann und wann begegnen wir uns irgendwo, im Norden oder Süden, im Osten oder Westen, erzählen uns Erlebtes und manchmal unsere Pläne.

Ein letztes Bild kommt mir in den Kopf. Ich sehe dich am Schreibtisch. Der Computer ist eingeschaltet. Auf dem Bildschirm gesellt sich Buchstabe zu Buchstabe, Zeile zu Zeile, eine Geschichte nimmt Gestalt an. Ich kenne sie nicht. Noch nicht. Doch ich werde sie kennen lernen. Ich freue mich auf diese Geschichte. Und auf alle weiteren.

Und ich freue mich mit dir - an diesem Tag! - und wünsche Glück für diesen Tag und alle Tage!