Texte/Reden

Heiner Egge

Signale von der Erde

In 27,3 Tagen kreist der Mond einmal um die Erde, aber während dieser Zeit dreht er sich auch ein Mal um sich selbst, das dürfen wir nicht vergessen. Deshalb werden wir seine Rückseite nie sehen. Man nennt das eine gebundene Rotation, und es ist eine große Kunst, sich das wirklich vorstellen zu können. Ich kann es nicht, aber Manfred Schlüter, der von sich behauptet (oder doch immerhin träumt), er sei der Mond, weiß das natürlich sehr viel besser und genauer als wir.
Mond zu werden, also der Trabant eines Planeten zu sein, ist an sich nicht die schlechteste Idee. Zumal wenn es sich um einen so lebenswerten, blauen Planeten wie die Erde handelt. Man bleibt ja verbunden mit seiner Herkunft, rein astronomisch gesehen, kann aber dort oben auf dem Mond ungestört eigene Bahnen gehen und in Ruhe die eigenen Dinge vorantreiben. Als wir uns noch auf Erden begegneten, dahinten in der Marsch bei Hillibilli, wo die Spargel in den Himmel wachsen und inzwischen alle Flügel haben, zeigte er mir auch seine früheren Arbeiten, zum Beispiel diese kleine Mischtechnik Dort, wo die Unendlichkeit beginnt, 16,7 x 14,7 Zentimeter. Da schien mir schon alles angelegt, überm Horizont die Explosion der Gesteinsmassen, die unbewohnte Gegend, das Unwägbare. Auch Die Fassade, ein gebrochenes Selbstportrait, stellte er mir auf die Staffelei, und ich erkannte im Vordergrund sofort das Mondgestein.

Ich sah mir alles an, auch Küstenkaisers Kistentanz und den Kleinen Stummelfresser, die Knochenzäune, Geburt der Stille. Auch wenn ich ihn bisher "nur" als den meisterhaften Illustrator von Kinderbüchern kannte, von Tranquilla Trampeltreu bis Störtebeker und Paul Oktopus und weit darüber hinaus, so wusste ich doch immer, dass dieser Mann ein begnadeter Sammler ist und an keinem Treibgut vorbeigehen kann. Und diesen Blick hat. Mit Worten und Wörtern macht er es genauso. Denn irgendwann wurde der Zeichner zum Dichter, der er immer schon war. Von Anfang an. Er dreht und wendet die Wörter, stellt sie auch auf den Kopf, lässt den Apfel sprechen und den Hering. Und wenn ihm niemand dabei zusieht, jongliert er sogar mit ihnen, hoch und höher, fällt eines zu Boden, macht nichts, es gibt ein neues dafür: Kuhu zum Beispiel oder Buddelschifffahrtskapitän. Jetzt also die Reise zum Mond.
Der Mond ist ein Mann. Und die Frau im Mond nur das Gebilde einer eher unheimlichen, wenngleich sehr schönen Phantasie.
Wie ich Schlüter kenne, hat er seine Reise gut und gründlich vorbereitet. Koffer hat er genug, große und kleine, sicher verschnürt. Ich stelle mir also vor, wie all diese Koffer mit einer langen Leine verbunden ins All hinaus schweben und am 28. Tag tatsächlich den Mond erreichen. Landung geglückt. Und in der absoluten Windstille, im alles gleichzeitig ausleuchtenden Licht öffnet er seine Koffer, einen nach dem anderen: Alles da. Hier oben geht nichts kaputt. Darauf kannst du dich verlassen. Und ringsum dann das Mondgestein. Wahnsinn, alles zum Anfassen. Und uralt, ein paar Milliarden Jahre, mindestens. Schlüter aber wundert sich kaum noch, das alles hat er doch schon im Traum gesehen. Und ein Bild wie Ausblick setzt sich hier oben ganz von alleine zusammen.
So ist das also, darauf können wir uns verlassen, doch der träumende Künstler, 384.400 Kilometer von uns entfernt, muss natürlich damit rechnen, dass wir zurückrufen, dass also die Erde ihre Signale sendet. Das kann sie nämlich, und ganz besonders gut, wenn sie anfängt, um den Mond zu kreisen.

Im Folgenden nun die Aufzeichnung einiger dieser Signale:

1. Signal (aus dem Jahre 1953)
Geburt im Kreis Steinburg, genauer in Kellinghusen, noch genauer der 16. Januar, also ein Steinbock und wie der Kalender vermerkt ein Freitag, die nahe Stör fließt unbeteiligt weiter, aber ein neues Leben fängt an: das Kind macht einen zufriedenen Eindruck. Es geht voran. Erde dreht sich um die Sonne, Mond um die Erde, alles paletti. Wobei außer dem späteren Maler niemand weiß, woher dieses Wort eigentlich stammt. Paletti?

2. Signal (aus dem Jahre 1976)
Schlüter taucht in Brunsbüttel auf, lebt in der Nähe der Jakobus-Kirche, zunächst auf der Luftmatratze beim Kollegen Rusch, macht Werbung, ist aber auf dem Weg zum Künstler, lernt die Galerie Stücker kennen, bereitet sich vor, einen eigenen Hausstand zu gründen mit Frau Karin und den Kindern, weiter nördlich am Rande der bewohnbaren Welt, aber immerhin in einem ehemaligen Schulhaus. Wie man später sehen wird, gelingt ihm das.

3. Signal, etwas undeutlich (Ende der Achtziger)
Fremdenzimmer im "Heider Hof". Michael Ende, der berühmte Erfinder von unendlichen Geschichten auf der Bettkante sitzend. Manfred Schlüter, der noch unbekannte Erfinder von unendlichen Geschichten auf einem Sessel am Fenster sitzend. Blick über den leeren ebenfalls unendlichen Heider Marktplatz: Prost auf die gute, wenn auch zurückliegende Zusammenarbeit! Die Hausbar wird geplündert, übrig bleibt der Flaschenöffner.

4. Signal (aus dem Jahre 1991)
Das Kuddelmuddeeelbuddelbuch erscheint. Der Zeichner und Erfinder wird zum Dichter. Macht jetzt alles selber. Text & Bild. Das erste "eigene" Buch wird ausgesetzt, als Flaschenpost natürlich. Es treten auf: Käpt'n Kuddel, sein Hund Muddel (der mit den Schlappohren), und das Schiff in der Buddel heißt Aurora. Die Reise geht los, fünf Zentimeter vor und fünf Zentimeter zurück. Vielleicht reisen sie heute noch.

5. Signal (aus dem Jahre 2009)
Mona-Luna fertiggestellt. Tischplatte, Weckerteil, Kopierpapier, Acryl. Nach draußen ins Vorland gebracht. Es lebe die Kunst, die freie Kunst! Er liebt die Wecker, besonders wenn sie rund sind wie Erde und Mond. Und nicht mehr ticken.

6. Signal (aus dem Jahr 2013)
Sondermeldung. "Das Perpezudum oder Wie der alte Morawitz das Perpetuum mobile erfand". Schlüters erster Roman, ganz ohne Bilder! Eine Erzählung von Tod und Liebe, von der Beharrlichkeit des Lebens und den Rädern, die sich immer weiter drehen.

Das vorletzte Signal (aus dem Jahr 2023)
Seltsamerweise wieder an einem 16. Januar, wie könnte es auch anders sein, aber diesmal an einem Montag. Da wird einer 70, scheint aber verreist zu sein; die großen Feste finden daher erst später statt, in den Galerien und Ausstellungsräumen.

Zugegeben, bei uns auf der Erde ist alles viel einfacher: Ein Baum ist ein Baum, der Ast ist ein Ast. Und ein Krieg ist ein Krieg. Dahingegen, der Herr Mond: Diese total blendende Helligkeit. Ein einziges Nichts. Und der Schatten pechschwarz. Aber möglicherweise ist das ja gut für einfache klare Objekte, Herr Schwarz, Frau Weiß zum Beispiel. Oder?

Man weiß es ja schon lange, auch der Mond schickt seine Signale, aber die sind sehr sehr leise, oft in Reimform. da bräuchte man auf Erden schon ein paar Eimer, um die alle einzufangen. Oder Ohren groß wie Satellitenschüsseln. Doch einmal, da war es für uns deutlich zu vernehmen: "Ich habe nicht die Absicht", klang es aus dem Äther, "fertig zu sein. Denn das hieße: Ende. Ich will werden. Neu werden. Anders werden. Um-weee-gee ..."
Doch da beginnt es zu rauschen, wir drehen nervös am Knopf des Satellitenradios, es rauscht und rauscht, jetzt fast schon so wie die kleine Brandung bei auflaufendem Wasser am Deich von Hillibilli. Aber vielleicht ist er jetzt gerade unterwegs zur Rückseite des Mondes. Wir haben keine Ahnung. Hallo? Hallo - Wenden wir uns also lieber wieder den deutlicheren Signalen der Erde zu:

Das vorerst letzte Signal (17. September 2023)
Der Störbote berichtet: Im Brockdorffschen Palais, einige Schritte vom Marktplatz entfernt, am Fleet gelegen. 11:30 Uhr Vernissage "Mich träumt, ich sei der Mond". Das (bisherige) Lebenswerk des Malers, Zeichners und Poeten Manfred Schlüter, 1974 bis 2022, Bilder, Objekte und Bücher. Der Künstler wird anwesend sein, sofern er sich rechtzeitig auf die Rückreise begeben hat. Auch die Dithmarscher Landeszeitung berichtet, allerdings mit drei Tagen Verspätung. Dort lesen wir: "Auf dem Mond ist nichts echt, alles nur ausgedacht." Der Küstenkurier aber bringt es auf den Punkt: "Nach den Sternen greifen wir alle."


Heiner Egge, der Schriftsteller und Dithmarscher Kulturpreisträger, sprach am 17. September 2023 anlässlich der Ausstellungseröffnung im Glückstädter Detlefsen-Museum: "MANCHMAL TRÄUME ICH, ICH BIN DER MOND, DER UM DIE ERDE KREIST"