Texte/Reden

Dieter Joachim Jessel

Über die Arbeiten von Manfred Schlüter Rede anlässlich einer Ausstellungseröffnung in der Galerie Irmhild Dieck (Heide) 1978

Meine sehr verehrten Damen, meine Herren!

Auf der Einladungskarte für diese Eröffnung und auf dem Plakat für diese erste Einzelausstellung Manfred Schlüters finden Sie die Reproduktion einer Arbeit, die für mich eine Schlüsselstellung im Werk dieses jungen Künstlers einnimmt.

Über einer nahezu unbehausten weiten Ebene mit tiefem Horizont spannt sich ein gewaltiger Himmel - in seiner Mitte hängt ein totes Gestirn, Fels gewordene Sonne, uraltes narbiges Gestein, aus dessen klaffender Höhle in lotrechtem Strahl Blut zur Erde rinnt - nie versiegend und gefräßig mit dunkelroten Zungen nach allen Seiten quellend! Am Horizont, sehr fern und leicht und stolz der flüchtige Schein eines Schiffes mit weißen Segeln - -

Dieses Bild führt den Betrachter ein in eine Bildwelt, in der uns Vertrautes, also wiedererkennbare Bestandteile unserer sichtbaren Umwelt wie Erde, Himmel, Horizont, Fels, Blut, Schiff in einen Gestaltzusammenhang gebracht werden, der sie gerade diesem Vertrautsein entrückt und dahin führt, dass ein neuer Sinnzusammenhang entstehen kann, der die Kraft hat, Empfindungen, Gedanken, Visionen, Träume sichtbar zu machen, die sich an unserer Wirklichkeit bis zur Verletzlichkeit stoßen und sich über sie erheben müssen, wollen sie wirksam sein.

Als Ergebnis steht ein Bild vor uns, das Mahnung und Sehnsucht in gleicher Weise in sich trägt. Als Albtraum hält es uns die apokalyptische Vision einer Endzeit vor Augen. Zugleich ist es aber auch Ausdruck einer Sehnsucht, die die Hoffnung auf einen Aufbruch zu neuen, menschlicheren Ufern aufzugeben nicht bereit ist.

Manfred Schlüter mag den Schlüsselcharakter dieses Bildes in ähnlicher Weise empfunden haben: der Titel - ich zitiere: „Wenn in sterbenden Wäldern der Dunst des neuen Tages sich verfängt und im Wirrwarr der Zweige die Zukunft verdorrt, wenn die letzten Strahlen einer fremden Sonne zu Boden schmelzen und dort blutrote Pfützen bilden, wenn in Euren Bäuchen alles Leben erstickt, wenn alles zu stürzen beginnt - dann wecke mich! Wird die Nacht jemals die Wunden des Tages heilen?“

Dieser Titel - der wie alle Bildtitel Schlüters nachträglich gefunden wurde - trägt zwar zu einer zusätzlichen Verrätselung des Bildinhalts bei, ist aber in seinem lyrischen Gehalt imstande, dem Bild durch die Sprache einen Ort zuzuweisen, an dem derjenige Betrachter sich mit Manfred Schlüter zu treffen vermag, der bereit ist, sich über diese Arbeiten zu beugen, der sich nicht nur in ihrem ästhetischen Reiz verliert - und ich gestehe, diese Gefahr ist groß - sondern der bereit ist, das feine grafische Gewebe der Striche und Punkte, die zarten Übergänge vom Lichten zum Dunklen, die verhaltenen, leisen Klänge der Farben zu übertragen auf die Bildzeichen, die als Metaphern gelesen schließlich das Ergebnis einer langwierigen, sich über Monate erstreckenden, sensiblen und behutsamen Arbeitsweise sind.

In ihnen, den erstarrten Chiffren weiblicher Anmut, dem traurigen Ernst eines menschlichen Gesichts, der brennenden Fackel eines Leibes, der Unendlichkeit der Horizonte, der Stein gewordenen Sprache eines aufragenden Torso, in all den Mutationen - immer auf der Flucht, wie greifbar von einem Zustand in den anderen wechselnd - mal quellend wachsend, wehend fließend, mal tropfend erstarrend, rissig berstend, in ihnen offenbart sich das überwache Bewusstsein eines Künstlers, das unsere Gegenwart im Mitleiden erfährt und nicht müde wird, in visionären Gleichnissen bis zur Verwundbarkeit und voll verhaltenem Schmerz zu hoffen!

„Und niemand will es sehen“
„Nein, du wirst nicht verdursten“
„Wird ein warmer Regen all das Gift aus deinen Wunden spülen“

Aus diesen Titeln klingt eine auf die Zukunft gerichtete Sehnsucht an, die für mich auch das formale Grundmotiv der Gestaltungsweise Manfred Schlüters bestimmt, sowohl im Finden eines Bildzeichens wie auch in seiner kompositionellen Durchgestaltung.

Ausgangspunkt ist häufig ein vielschichtiger farbiger Grund, der Sehnsüchte weckt, der Formen aus sich entlässt, die die Phantasie heraufbeschwört, annimmt, verwirft - bis schließlich jenes Zeichen gefunden ist, das sich als Antwort auf häufig verzweifeltes Suchen einstellt. Ein Bildzeichen, das sich in der Regel wie ein Mal aus der Bildfläche aufrichtet und in seiner Vordergründigkeit das sehnsüchtige Verhältnis zur Unendlichkeit des Raumes verdeutlicht.

Dieses romantisch zu nennende Kompositionsprinzip verbunden mit der realen Greifbarkeit einer verrätselten Dingwelt lässt Arbeiten entstehen, die in ihrer häufig poetischen Verschlüsselung über unsere Wirklichkeit hinausweisen und damit in die Nähe einer surrealen Bildsprache gelangen, wie wir sie - ausgeprägt in der Sprache - bei Paul Eluard, dem französischen Surrealisten, wiederfinden.

Ich möchte daher diesen kleinen Versuch einer Ortsbestimmung des hier ausgestellten Werkes Manfred Schlüters abschließen mit einigen Zeilen Eluards, die er 1941 im offenen Buch mit den Worten „meine Stunden“ überschrieb und die - merkwürdig genug - etwas auszusagen scheinen über den Menschen Manfred Schlüter:

„Ich war Mensch im Fels
Ich war Fels im Menschen Mensch im Fels
Ich war Vogel in der Luft Raum im Vogel
Ich war Blüte im Frost Fluss in der Sonne
Karfunkel im Tau
Brüderlich einsam brüderlich frei“